Distance caregiving: Eine neue Möglichkeit der Versorgung von pflegeempfangenden Angehörigen (ein Text von Andrea Budnick und Farina Bünning)

Stellen Sie sich vor, Sie sind in einen anderen Teil Deutschlands oder sogar ins Ausland gezogen – der Liebe wegen, aufgrund eines neues Jobs oder einfach nur aus Fernweh. Ihre Eltern und andere Verwandte und Bekannte wohnen weiterhin „in der Heimat“, benötigen ab einem bestimmten Zeitpunkt Unterstützung und bekommen in diesem Kontext einen Pflegegrad.[1] Sie besprechen mit ihnen regelmäßig am Telefon die neu eingetroffenen, wichtigen Briefe, organisieren Ärzt:innentermine und unterstützen bei kleinen Reparaturen oder Besorgungen, wenn Sie vor Ort sind. Gehören Sie damit zu der Gruppe der pflegenden und sorgenden Angehörigen? Ja! Um genauer zu sein, sind Sie distance caregiver im gleichnamigen Pflegearrangement distance caregiving (dt.: Pflege & Unterstützung aus der Ferne). Mit dieser Art des Pflegearrangements beschäftigt sich das BMBF-geförderte Projekt ROAD – CaRegiving frOm A Distance.

Laut der aktuellen Pflegestatistik gibt es ca. fünf Millionen Menschen, die einen Pflegegrad haben (Statistisches Bundesamt, Destatis, 2022). Mehr als die Hälfte von ihnen wird ausschließlich oder neben professionellen Unterstützungs- und Pflegediensten überwiegend von pflegenden und sorgenden Angehörigen unterstützt (Verwandte und enge Bekannte, ebd.). Dies umfasst ausschließlich anerkannte Pflegepersonen nach dem Sozialgesetzbuch XI. Ungefähr ein Drittel aller pflegenden Angehörigen leben im gleichen Haushalt (Ehrlich & Kelle, 2019, S. 190). Gleichzeitig führen gesellschaftliche Entwicklungen wie der Anstieg der Frauenerwerbsquote, die steigende Anzahl an Single-Haushalten sowie private und berufliche Mobilität dazu, dass das Potenzial der lokalen Pflege durch pflegende Angehörige sinkt. Distance caregiving – die Pflege und Unterstützung von An- und Zugehörigen über eine räumliche Distanz – ist dabei eine Möglichkeit, den beschriebenen Entwicklungen entgegenzutreten. In Deutschland lebt aktuell ca. ein Viertel der erwachsenen Kinder, die ihre Eltern pflegen, mehr als 25 km von ihren Eltern entfernt (Wagner et al., 2019, S. 532).

Distance caregiver im Fokus

Trotz steigender Relevanz ist das Thema in der Forschung noch unterrepräsentiert (Bei et al., 2020). Es gibt zwar systematische Literaturübersichten zur Definition des Begriffs distance caregiving, jedoch beziehen sich die Forschungsarbeiten auf den Zeitraum von Anfang der 2000er Jahre und inkludieren hauptsächlich den englischsprachigen Raum (Cagle & Munn, 2012; Bledsoe et al., 2010). Des Weiteren fehlt eine einheitliche Definition, unter welchen Voraussetzungen distance caregiving gegeben ist (Budnick et al., 2023). Eine systematische Literaturübersicht zeigt, dass die Distanz sowohl in räumlicher und zeitlicher Entfernung, als auch als empfundene Distanz erhoben wird (Franke et al., 2019). Letzteres beruht aufgrund verschiedener Umständen (bspw. Zugang zu öffentlichem Nah- und Fernverkehr, Fahrtkosten) in Notsituationen nicht schnell genug vor Ort sein zu können (Budnick et al., 2022; Bei et al., 2020). Distance caregiver leisten dabei verschiedene Unterstützungsarten: Sie organisieren und koordinieren das Pflegearrangement, übernehmen administrative Aufgaben, beraten bei Entscheidungen und unterstützen die Pflegeempfangenden bei emotionalen Anliegen (Franke et al., 2019). Im Fokus stehen deren Sicherheit und Versorgung. Die Distanz zwischen den distance caregivern und den Pflegeempfangenden birgt dabei die Hürden, dass erstere nicht den genauen Gesundheitszustand der Pflegeempfangenden einschätzen und in Notfallsituationen nicht kurzfristig vor Ort sein können (Minahan et al., 2018). Somit steigt die Bedeutung des professionellen und privaten lokalen Netzwerkes, das sich vor Ort um die Pflegeempfangenden kümmert. Das private lokale Netzwerk schließt sowohl andere Familienmitglieder wie die (Ehe-)Partner:innen oder weitere Kinder der Pflegeempfangenden, als auch Freund:innen und Nachbar:innen ein (Pelizäus & Franke, 2022; White et al., 2020; Zentgraf et al., 2019).

In zahlreichen Forschungsarbeiten werden distance caregiver in den Fokus gerückt (Bei et al., 2023; Pelizäus & Franke, 2022; Engler, 2020; White et al., 2020). Die bereits beschriebene Hürde der Distanz kann sich allerdings negativ auf alle Beteiligten in Form von psychischen Beschwerden (Li et al., 2019) oder Nachteilen im Arbeits- und Privatleben (Franke et al., 2019) auswirken. Aus diesem Grund ist es das Ziel des Projektes ROAD, ein neues Versorgungsmodell zu distance caregiving zu entwickeln, welches die Perspektiven aller Beteiligten enthält (Pflegeempfangende, distance caregiver, privates und professionelles lokales Netzwerk). Es soll Handlungsempfehlungen enthalten, um das zuverlässige Funktionieren des Pflegearrangements zu fördern. Die leitende Fragestellung lautet demnach „Welche Anforderungen stellen die Beteiligten an das Pflegearrangement distance caregiving?“

Eine Methode, die alle Perspektiven vereint

Im Projekt ROAD wurde ein qualitatives Mehrmethodendesign angewandt. Es wurden 20 heterogene distancecaregiving-Triaden rekrutiert, jeweils bestehend aus einer pflegeempfangenden Person, einem distance caregiver und einer Person des privaten oder professionellen lokalen Netzwerkes (s. Abb. 1).

Abb. 1: Distance-caregiving-Triade (Bünning & Budnick, 2022).

Mit diesen wurden separat problemzentrierte Leitfadeninterviews sowie teilnehmende Beobachtungen in der Häuslichkeit der Pflegeempfangenden zur Alltagsstruktur der Beteiligten, Interaktionen zwischen diesen, deren Erwartungen und deren (gewünschte) Nutzung von technischen Unterstützungssystemen geführt. Es wurden ebenfalls drei Expert:inneninterviews mit unabhängigen Technikanbieter:innen und Forscher:innen geführt, die Technik zu ambulanten und distance-caregiving-Pflegearrangements entwickeln und zu diesen forschen. Die Interviews und Protokolle der teilnehmenden Beobachtungen wurden anhand der phänomenologischen Analyse nach Giorgi et al. (2017) ausgewertet. Dabei wurden die Gemeinsamkeiten des Phänomens distance caregiving in den 20 unterschiedlichen distancecaregiving-Triaden herausgearbeitet.

Heterogene Triaden

Übereinstimmend mit bestehenden Forschungsarbeiten (Franke et al., 2019) sind die meisten distance caregiver in den erhobenen Triaden weiblich mit einem hohen Bildungsabschluss und berufstätig. Das lokale Netzwerk ist heterogen verteilt. In den 20 Triaden sind die Pflegegrade 1-4 abgebildet. Die Teilnehmenden konnten selbst entscheiden, wie sie die Distanz zueinander beschreiben, um keine potentiellen Triaden auszuschließen. So wurde die Distanz in den meisten Fällen in Kilometern (durchschnittlich 370 km) und in weniger Fällen in einer Fahrzeit von ca. 45-60 Minuten angegeben. Die meisten distance caregiver sind die Kinder oder andere Verwandte der Pflegeempfangenden, während das lokale Netzwerk aus anderen Familienmitgliedern, Freund:innen, Nachbar:innen oder professionellem Unterstützungs- und Pflegepersonal besteht.

Transparenz & Adaption unterstützt ein funktionierendes Pflegearrangement

Auf der Basis der Ergebnisse des Projektes ROAD lässt sich herausstellen, dass distance caregiving zuverlässig funktionieren kann, wenn der Distanz zwischen den distance caregivern und den Pflegeempfangenden durch technische Unterstützungssysteme und insbesondere durch das lokale Netzwerk entgegengewirkt wird. Durch diese Verbindungen behalten die distance caregiver Handlungsfähigkeit und -sicherheit, da sie über den Zustand der Pflegeempfangenden informiert sind. Die Bedeutung des privaten und professionellen lokalen Netzwerkes in der alltäglichen Versorgung sowie in Notfällen nimmt mit steigendem Pflegegrad zu (Bünning & Budnick, 2024). Insbesondere eine transparente Kommunikation über die Versorgung der Pflegeempfangenden und über die Bedürfnisse aller Beteiligten ist von Bedeutung. Dies betrifft sowohl Zuständigkeiten für verschiedene Aufgaben, die die Pflegeempfangenden, die distance caregiver und das private und professionelle lokale Netzwerk im Pflegearrangement übernehmen, als auch deren Umfang.

Durch die angewandte phänomenologische Analyse (Giorgi et al., 2017) konnten in den Ergebnissen des ROAD-Projektes die Perspektiven aller Beteiligten berücksichtigt werden. Sie fließen in ein neues Versorgungsmodell zu distance caregiving ein, welches Handlungsempfehlungen für alle Beteiligten enthält. Es soll den Pflegeempfangenden ermöglichen, so lange wie möglich in ihrer eigenen Häuslichkeit wohnen bleiben zu können, während die distance caregiver ebenfalls autonom in ihrer Wohnortswahl bleiben. Ein funktionierendes Pflegearrangement führt zu weniger Konflikten unter den beteiligten Akteur:innen und reduziert  Belastungen für alle Beteiligten.

In soziologischen Folgebetrachtungen im Rahmen des Projektes werden die Erwartungen der Beteiligten aneinander sowie Technische Unterstützungssysteme im Pflegearrangement distance caregiving analysiert. Außerdem ist insbesondere die Entscheidungsfindung zu Beginn des Pflegearrangements sowie im Alltag und in Notsituationen von soziologischem sowie gerontologischem Interesse, um die Versorgung von pflegeempfangenden Personen noch effizienter gestalten zu können. Weiterhin sollten in folgenden Studien Pflegeempfangende mit Pflegegrad 5 im ambulanten und ggf. stationären Setting berücksichtigt werden, um Grenzen des Pflegearrangements distance caregiving besser beurteilen zu können.

Hier geht es zum Studienprotokoll des ROAD-Projektes.

Für zukünftige Veröffentlichungen informieren Sie sich gern auf der Website des ROAD-Projektes und des Institutes für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Kontakt: Farina Bünning | Mail: farina.buenning@charite.de

[1] Personen, die in ihrer Selbstständigkeit beeinträchtigt sind, können durch die Pflegeversicherung einen Pflegegrad und damit Geld- und Sachleistungen bekommen. Es gibt insgesamt fünf Pflegegrade von „1 = geringe Beeinträchtigung“ bis „5 = schwerste Beeinträchtigung mit besonderen Anforderungen“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2024, S. 52f.).

Literatur

Bei, E., Morrison, V., Zarzycki, M., & Vilchinsky, N. (2023). Barriers, facilitators, and motives to provide distance care, and the consequences for distance caregivers: A mixed-methods systematic review. Social Science & Medicine, 321, 115782. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2023.115782.

Bei, E., Rotem-Mindali, O., & Vilchinsky, N. (2020). Providing care from afar: A growing yet understudied phenomenon in the caregiving field. Frontiers in Psychology, 11, 681. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2020.00681.

Bledsoe, L., Moore, S., & Collins, W. (2010). Long distance caregiving: An evaluative review of the literature. Ageing International, 35, 293–310. https://doi.org/10.1007/s12126-010-9062-3.

Budnick, A., Bünning, F., & Kuhlmey, A. (2022). CaRegiving frOm A Distance (ROAD): Home care in the future-flexible and nearby – multimethod qualitative study protocol. BMJ Open, 12(10), e062927. https://doi.org/10.1136/bmjopen-2022-062927.

Budnick, A., Bünning, F., & Kuhlmey, A. (2023). A recommendation for a uniform definitionof distance caregiving: A scoping review. Innovation in Aging, 7(1), 980. https://doi.org/10.1093/geroni/igad104.3148.

Bundesministerium für Gesundheit. (2024). Pflegeleistungen zum Nachschlagen. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Pflege/Broschueren/BMG_Pflegeleistungen_zum_Nachschlagen_bf.pdf (Stand: 01.11.2024).

Bünning, F., & Budnick, A. (23.02.2024). Bringt die Distanz neue Hürden? Anforderungen von distance-caregiving-Triaden differenziert nach Pflegegrad. 5. Charité-Versorgungsforschungskongress, Potsdam.

Bünning, F., & Budnick, A. (13.09.2022): Anforderungen in der Pflege auf Distanz. Eine Qualitative Analyse der distance-caregiving-Triade. Gerontologie und Geriatrie Kongress, Frankfurt am Main.

Cagle, J. G., & Munn, J. C. (2012). Long-Distance Caregiving: A Systematic Review of the Literature. Journal of Gerontological Social Work, 55(8), 682–707. https://doi.org/10.1080/01634372.2012.703763.

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Engler, S. (2020). Pflegende Angehörige auf Distanz. Versorgungsstrukturen: Lücken, Bedarfe und Entwicklungsmöglichkeiten. Pädagogische Hochschule Freiburg.

Franke, A., Kramer, B., Jann, P. M., van Holten, K., Zentgraf, A., Otto, U., & Bischofberger, I. (2019). Aktuelle Befunde zu „distance caregiving“: Was wissen wir und was (noch) nicht? Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 52(6), 521–528. https://doi.org/10.1007/s00391-019-01596-2.

Giorgi, A., Giorgi, B., & Morley, J. (2017). The Descriptive Phenomenological Psychological Method. In: Willig, C., Rogers, C. S. The Sage Handbook of Qualitative Research In Psychology. Sage, 176–192.

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Minahan, J., Cimarolli, V. R., Horowitz, A., Hicks, S., Jimenez, D., & Falzarano, F. (2018). Service use and needs among long-distance caregivers. Innovation in Aging, 2, 201–202.

Pelizäus, H., & Franke, A. (2022). „Und manchmal habe ich schon gedacht, es wäre so einfach, wenn er da um die Ecke wäre“. Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, 73(4), 325–332.

Statistisches Bundesamt, Destatis. (2022). Pflegestatistik 2021. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Publikationen/Downloads-Pflege/laender-pflegebeduerftige-5224002219005.html (Stand: 01.11.2024).

Wagner, M., Franke, A., & Otto, U. (2019). Pflege über räumliche Distanz hinweg: Ergebnisse einer Datenanalyse des Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 52(6), 529–536. https://doi.org/10.1007/s00391-019-01605-4.

White, C., Wray, J., & Whitfield, C. (2020). ‘A fifty mile round trip to change a lightbulb’: An exploratory study of carers’ experiences of providing help, care and support to families and friends from a distance. Health & Social Care in the Community, 28(5), 1632–1642. https://doi.org/10.1111/hsc.12988.

Zentgraf, A., Jann, P. M., Myrczik, J., & van Holten, K. (2019). Pflegen auf Distanz? Eine qualitative Interviewstudie mit „distance caregivers“. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 52(6), 539–545. https://doi.org/10.1007/s00391-019-01607-2.

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