Zur „prakmatischen Soziologie“

von Guido Tolksdorf
Soziologie heute Ausgabe Oktober 2021

Zahlreiche große Themen der Gegenwart: Corona, Digitalisierung, Klimawandel, Energiewende, große Transformation, Meinungseinschränkungen und weitere mehr haben jeweils eine gesellschaftliche, soziale Dimension, für die die Soziologie Erkenntnisbeiträge anbieten kann.

Geht es um Problemlösungen, dann reicht allein disziplinäres soziologisches Wissen oftmals nicht aus, weil andere Aspekte mit hinein gehören. Es sind andere Sachebenen, z. B. Digitaltechnik, Stromnetze oder spezielle Fragen der Virologie, die multidisziplinär bearbeitet werden sollten, damit optimale Lösungen generiert werden können. Solche Lösungsprozesse beginnen schon
bei der Definition der Problem- sowie Fragestellung, um die erforderliche Referenz für die verschiedenen Sichtweisen der Problemlöser in den Fokus zu bekommen.

Bezogen auf, z. B. Wirtschaftsorganisationen (2013) und die Hochschullehre von Soziologie (2016) habe ich die Anforderungen für notwendige laterale Kooperationen beschrieben, wenn nützliche Lösungen zu komplexen Problemen angestrebt werden. Dafür habe ich die Bezeichnung „pragmatische Soziologie“ in Abgrenzung zur „disziplinären Soziologie“ verwendet.

Der Virologe Hendrik Streeck verweist, als es um den Umgang mit Covid 19 Anfang des Jahres 2020 ging, auf die Zusammensetzung eines Expertenrats, der sich aus zwölf Fachleuten zusammensetzte, „die aus der Medizin, der Psychologie, den Rechtswissenschaften, der Wirtschaft, der Soziologie und sozialen Diensten“ (2021, 104) kamen. Hieran kann man unschwer erkennen, dass in praktischen Problemlagen
Erwartungen an mehrere Disziplinen und eben auch an die Soziologie gestellt werden, denen sie kooperativ gerecht werden sollte.

Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse
Der soziologische Anspruch, gesellschaftliches Prozessieren und gesellschaftliche Bedingungsgefüge zu beobachten, zu verstehen und auch zu erklären ist nicht leicht einzulösen. Wissenschaftliche Theorien und Methoden können die Aufmerksamkeit fokussieren, sind aber meist innerhalb der Disziplin auf bestimmte gesellschaftliche Aspekte, wie Struktur, Kultur, Wirtschaft, Politik, Technik etc. ausgerichtet. Darin besteht ein disziplinäres Handikap, das überwunden werden sollte, wenn es nicht vorrangig um disziplinäre, sondern um außerwissenschaftlich nützliche Problemlösungen geht. Werden Antworten auf brennende Fragen der Gegenwart gesucht, z. B. den Umgang mit Covid 19 und dessen Mutanten, dann können Wissensbestände, verschiedene theoretische Ansätze sowie Methoden hilfreich sein. Ihr Gegenstand ist aber nicht mehr eindeutig disziplinär vorgeprägt, sondern durch eine Fachgrenze überschreitende Problemlage benannt. Folglich sind andere Disziplinen und Forschungsgebiete, wie z. B. Medizin, Recht, Psychologie, Technologie, die Bezug zum Gegenstandsfeld haben, projektbezogen zu integrieren.

Apokalyptische Erzählungen
Ein unsere Zeit plagendes Phänomen sind die seit Jahren grassierenden und ständig verschärfenden Narrationen in Medien, Politik und teils auch bei aktivistischen Wissenschaftlern. Eine der verbreiteten Erzählungen ist die von der Klimakatastrophe und dem Ende des Lebens auf dem Planeten; seit dem Club of Rom (1979) stehe die Uhr auf fünf vor zwölf. Bereits Anfang diese Jahrhunderts hat ein dänischer
Statistikexperte Menschheitsprobleme, wie den weltweiten Umweltschutz, empirisch überprüft und ist zu dem für Protagonisten der apokalyptischen Kampagne ernüchterndem Ergebnis gelangt: „Die wirkliche Lage der Welt“ wird nicht immer schlechter, sondern eher besser. (Lomborg, 2002, 379) Der Titel des Buches lautet dann auch folgerichtig „Apocalypse No!“ Um diese Veröffentlichung wurde nach ihrem Erscheinen heftig gestritten, dann wurde die aufkeimende Skepsis gegenüber den Mythen des medialen Mainstreams leider vom Tisch gewischt, ohne Fakten und Argumente von Lomborg substanziell widerlegt zu haben.

Mein Verständnis von Soziologie orientiert sich immer noch an dem Anspruch, aufklärerisch und gesellschaftskritisch zu sein und nicht vorrangig der Ideologieproduzent für herrschende Interessengruppen. Deshalb ist es mir ein Anliegen, zur Aufklärung gesellschaftlicher Erzählungen beizutragen. Dafür muss ich mich auch auf Fachkompetenzen aus anderen Disziplinen einlassen, um die
jeweiligen Sachverhalte angemessen aufgreifen zu können. In einem Beitrag für das Augustheft der „soziologie heute“ (2021) habe ich exemplarisch die Wortwahl einiger Bedrohungsszenarien behandelt. In diesem Beitrag nehme ich mir ausgewählte Themenfelder vor, die gegenwärtig die öffentlichen Diskussionen markieren und will zeigen, dass auf der jeweiligen Fachebene relativierende und teils grundlegende Kritik daran geübt wird, die aber in den Verbreitungsmedien und in der Politik kaum beachtet und eher ignoriert wird.

Covid 19
Offenkundig sind die Einschätzungen zum Virus Covid 19 und die darauf bezogenen Politik umstritten, insbesondere, da dieses Phänomen wahrscheinlich erstmals im November 2019 in China beobachtet worden ist, also nach wie vor noch jung ist und hohe Gesundheitsrisiken für Menschen birgt. Ein anerkannter Fachvertreter der Virologie und Immunologie ist der oben bereits genannte H. Streeck. Mit seinen Untersuchungsergebnissen zu Covid 19 liegt er teilweise außerhalb der regierungsnahen Verkündigungen. „Jede kontroverse Debatte wird unterbunden. Anstatt eine vorbehaltlose Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen und Vorschlägen zu fördern, denkt die Politik in Lagern und grenzt kritische Stimmen aus.“ (Streeck, 2021, 159) Die Verengung „der Wissenschaft“ auf die Virologie und dann auch noch unter Ausschluss von kritischen Stimmen, hat der Bevölkerungsmehrheit
in 2020 und 2021 eine chaotische Politik mit hohen Lasten und Schäden bereitet, die, so die These, hätten minimiert werden können, wenn neben den virologischen auch andere Erkenntnisfelder der Psychologie, Soziologie, Pädagogik, etc. wirksam einbezogen worden wären. Hier zeigt sich ein gesellschaftliches Defizit in zentralen Entscheidungsvorgängen, die m. E. die Soziologie aufdecken und sich selbst für laterale Arbeitsweisen rüsten sollte.

Verengung der freien Meinungsäußerung
Aus v. a. juristischer Sicht thematisiert, z. B. ein Bundestagsvizepräsident den aktuellen Zustand zu Meinungsäußerung im öffentlichen Raum. „Ich kann mich an keine Phase der Bundesrepublik erinnern, in der es um die Freiheit der Meinung so schlecht bestellt war wie heute. … Man kann zwar alles sagen, wird aber nicht mehr differenziert gehört.“ (Kubicki, 2021, 139) Für den Lockdown in 2020/21wird
festgestellt: „Politische Propaganda tritt an die Stelle von wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen.“ (Lütge/Esfeld, 2021, 27) Eine pragmatische Soziologie tut m. E. gut daran, solche und ähnliche Beobachtungen und Beschreibungen von sozialen Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und in ihren eigenen Beobachtungen zu berücksichtigen.

Wenn die Meinungskorridore im öffentlichen Raum und selbst in den Wissenschaften seit Jahren verengt und v. a. kritische Stimmen ausgegrenzt werden, dann werden gesellschaftlich relevante Prozesse suboptimal und risikoscheu. Der Rückgriff auf kritische Beschreibungen aus der Lebenswelt, z. B. von Politikern oder anderen bietet zumindest eine Chance, die vielschichtige Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, hier konkret: die Verständigung innerhalb der Gesellschaft sehr genau anzuschauen und
zu hinterfragen, damit die Nutzen generierende Soziologie nicht aktuelle Entwicklungen übersieht oder gar blind wird gegenüber aktuellen Tendenzen.

Klimawandel
Neben Corona steht „Klimawandel“ in der medialen und politischen Aufmerksamkeit weit oben. Mit der „großen Transformation“ oder dem „Great Reset“ sind politische Programme der Herrschaftsspitzen vorgegeben, die den basalen Umbau der Gesellschaften zum Ziel haben. (vgl. Tolksdorf, 2021, 15 f.) Darin wird der anthropogene Anteil an den Treibhausgasen absolut vorausgesetzt und die apokalyptischen Szenarien von der Politik, wie erst jüngst, immer wieder gesteigert. Mit dem zweifelhaften und wissenschaftlich unsoliden Beschluss vom März 2021 hat das deutsche Bundesverfassungsgericht die überzogene Politik auch noch befeuert. (vgl. Vahrenholt/Lüning, 2021)
Dagegen argumentieren u. a. zwei Klimaexperten, in dem sie ähnlich wie Bjorn Lomborg, die verfügbaren wissenschaftlichen Fakten und Erkenntnisse kritisch sichten sowie auswerten. (Vahrenholt/Lüning, 2020) Im Ergebnis schlagen sie keinen Klimaalarm, sondern können zeigen, dass die im Wesentlichen auf Modellrechnungen verweisenden medialen und politischen Narrationen realitätsfern sind und für angemessene Maßnahmen zum Umgang mit dem Klimawandel erheblich mehr Zeit verfügbar sei, als politisch und jetzt auch gerichtlich vorgegeben wird.

Hierzu passt auch eine Publikation, die die verheerenden Folgen (Unwirksamkeit, Risiken, Kosten) der überstürzten „Energiewende“ in Deutschland aus ingenieurwissenschaftlicher Sicht beschreibt. (vgl. Henning, 2021) In Gesprächen mit Kollegen der Soziologie, aber auch anderer Fächer bin ich mitunter erschrocken über die Unbedarftheit hinsichtlich basaler physikalischer Kenntnisse, die für die Diskussion
von Energiepolitik relevant sind. Will man Ingenieure und Naturwissenschaftler verstehen und selbst anschlussfähig sein, kommt man um fundamentale Fakten und physikalische Erkenntnisse jener Fächer nicht herum; denn es geht ja um sehr komplexe Zusammenhänge. Folglich sollte man sich entsprechend belesen oder anderweitig fit machen.

Ein langjähriger Weggefährte fragte, als ich ihn auf Bücher zur Energiewende und zur Corona-Politik ansprach, warum ich solche Literatur läse. Vermutlich ist die fachliche Borniertheit nach wie vor verbreitet. Sollen aber pragmatische Problemlösungen, meist unter Zeitdruck, erarbeitet werden, ist sie ein Handikap. Auch als Soziologe sollte man z. B. wissen: „Im Stromnetz ist das Gleichgewicht von Erzeugung und Verbrauch von existenzieller Bedeutung. (31) … Es muss also keinen grundsätzlichen Mangel an Strom geben, um das System zu gefährden.“ (Hennig, 2021, 40) Falls man mit soziologischer Perspektive zu komplexen Themenfeldern beitragen soll, reicht es nicht, von Wunschdenken geleitet zu sein, sondern erst gesichertes Wissen bietet ein solides Fundament zur Behandlung von Klima- und Energiefragen auch für die “pragmatische Soziologie“; falls man z. B. nach den Beschäftigungs- und
Einkommensrisiken fragt. Nicht die Verfestigung von bestimmten Interessen geleitetem Zeitgeist ist Aufgabe der Soziologie, sondern kritische Benennung, Aufdeckung und Aufklärung gesellschaftlicher Phänomene.

Wie selbstgefällig und –gerecht operiert Soziologie?
Mit dieser Frage lehne ich mich an den Buchtitel von Sahra Wagenknecht an, Die Selbstgerechten (2021). Sie ist eine Politikerin, die seit vielen Jahren in Deutschland aber auch in Brüssel Politik für die Partei „Die Linke“ gemacht hat und wieder für den Bundestag kandidierte. Mir ist sie aufgefallen, weil sie ihren politischen Standpunkt öffentlich sachkundig argumentativ vortragen und verteidigen kann. Damit ragt sie m. E. wie wenige aus dem Pool der Spitzenpolitiker hervor.

Ihr Buch strukturiert sie, indem sie von „großen Erzählungen“ (50 f.) ausgehend zahlreiche brisante Themen diskutiert. Sie nutzt also ein Vorgehen, das die Soziologie kennt und auch empirisch nutzt. Über diesen Weg arbeitet sie Sinneswandel heraus, z. B. bei dem, was bis in die 80er Jahre unter „links“ verstanden wurde (incl. Sozialdemokratie und Grüne) und heute unter „linksliberal“ anders erzählt wird. Eine von zahlreichen Thesen ist: „Damit allerdings hat die Linke die Seiten gewechselt. Während die traditionelle Linke die Unterprivilegierten, die Menschen mit geringen Bildungschancen und weniger Einkommen vertreten hat, steht die linksliberale Linke auf der Seite der Gewinner der sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte.“ (2021, 97) Solche und andere Thesen sind Ergebnis ihrer faktenreichen und prinzipiell ungeschönten Analysen. Damit provoziert sie natürlich Widerspruch im linksliberalen Milieu, bis hin, dass in ihrer eigenen Partei Ausschluss-forderungen laut werden. Ihre
empirisch gestützte Sicht auf gesellschaftliche Wandlungen ist mittels „beobachtender Teilnahme“ (Tolksdorf, 2001, 202 f.) gewonnen, d. h. einer Doppelrolle als Entscheider und wissenschaftlicher Beobachter. Für die „pragmatische Soziologie“ ein relevanter Zugang zur außerdisziplinären Realität. Die Verbindung zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und konkreter Politik wird mit basaler Kritik versehen von Wagenknecht herausgestellt. Auch dies ist, wie die anderen in diesem Text zitierten,
kein soziologisches Fachbuch, aber enorm anregend, wenn man Antworten, z. B. zu Wählerwanderungen und tendenziellem Wahlabsentismus sucht. Vor dem Hintergrund solcher Publikationen ist die „pragmatischen Soziologie“ herausgefordert.

Fazit
Gegenwärtig gibt es zahlreiche gesellschaftliche Problemfelder, die dringend einer angemessenen Lösung harren, zu denen nicht allein aus einer disziplinären Sicht von Soziologie beigetragen werden kann. Sei es Covid 19, sei es Digitalisierung oder Klimawandel. Alle Themen sind so komplex, dass fachübergreifend an praktischen Lösungen gearbeitet werden sollte. Dabei kann Soziologie aus ihrem Fundus schöpfen, sollte sich aber darüber hinaus anschlussfähig für andere Disziplinen machen, wenn sie nützliche Effekte erzielen will. Hilfreich ist es, wenn basale und kritische Fachbeiträge anderer Fachleute, die zum Problem kompetent beitragen, rezipiert werden. Umgekehrt erwartet die Soziologie ja auch, dass man ihre Grundlagen nicht ignoriert. Das Hinterfragen von dominanten Erzählungen gehört mitunter zum Einstieg und zur Redlichkeit einer „pragmatischen Soziologie“.

Quellen:
Hennig, Frank, Klimadämmerung, München 2021
Kubicki, Wolfgang, Meinungsunfreiheit, Berlin 2020, 2. Aufl.
Lomborg, Bjorn, Apocalypse No!, Lüneburg 2002
Lütge, Christoph/Esfeld, Michael, Und die Freiheit?, München 2021, 2. Aufl.
Streeck, Hendrik, Hotspot, München 2021
Tolksdorf. Guido, Wo beginnt, wo endet „Beratungsforschung“?, in: Degele, N. u. a. (Hg.), Soziologische Beratungsforschung, Opladen 2001, 199 – 207
Ders., Laterale Verfahren für das Organisationsleiten, in: Bührmann, A. D. u. a. (Hg.), Wiesbaden 2013, 111 – 125
Ders., Nützliche Soziologie, in: soziologie heute, April 2016, 18 – 21
Ders., Die große Transformation, in: soziologie heute, August 2021, 15 – 18
Vahrenholt, Fritz/Lüning, Sebastian, Unerwünschte Wahrheiten, München 2020
Dies., Unanfechtbar?, München 2021
Wagenknecht, Sahra, Die Selbstgerechten, Frankf. a. M. 2021

Der Autor:
Seit WS 2011/12 ist Prof. Dr. Guido Tolksdorf emeritierter Hochschullehrer der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Arbeitsschwerpunkte sind Human Ressourcen Management, Betriebsorganisation sowie Organisationswandel. Im IMO-Institut GmbH in Mainz ist er als freier Mitarbeiter tätig.

Gegenwärtig stehen Beratungsprozesse, Moderation und Coaching im Verwendungskontext mit Hochschul-, Klinik- und Unternehmensleitungen im Fokus.

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