Realitätscheck: Gendergerechte und -sensible Erziehung bei den Kleinsten

Sarah Gerbach

Pädagogische Leitlinien schön und gut – Rollenklischees aber haben offenbar einen Langzeitmietvertrag. In meiner Arbeit habe ich den Alltag einer Kinderkrippe untersucht und geschaut, wo sich die männliche Herrschaft und die symbolische Gewalt heimlich hinter Bauklötzen und Bilderbüchern verstecken.

Forschungsstand mit Luft nach oben

Eine genderbewusste Pädagogik ist im Bildungsplan Baden-Württembergs verankert, doch es gibt wenig Forschung zu deren tatsächlicher Umsetzung (Rohrmann 2022). Diese Forschung konzentriert sich meist auf Kitas, in denen Kinder ab drei Jahren bereits geschlechterspezifische Sozialisation erfahren haben. Daher stellt sich die Frage, warum Forschung und Leitlinien nicht bereits in der Krippe ansetzen.

Zwischen Bauklötzen und Rollenkisten: Was wirklich passiert

Die Forschung nutzte die videographische Interaktionsanalyse (Tuma et al. 2013; Bohnsack et al. 2013), um die alltäglichen Interaktionen zwischen Erzieher*innen und Kindern zu untersuchen. Dabei wurden Kommunikations- und Verhaltensmuster im Detail sichtbar gemacht und durch Reflexionssitzungen mit den (ausschließlich sich weiblich identifizierenden) Fachkräften kritisch hinterfragt. Zur Anregung der Reflexion dienten Fragen wie: „Was lernt das Kind gerade?“ und „Hätte ich bei einem Kind mit anderer geschlechtlicher Zuweisung genauso reagiert?“.[1] Die Ergebnisse? Geschlecht spielt mit – oft leise, aber wirkungsvoll. Dies zeigt sich beispielsweise im Themenfeld Kleidung: Als Mädchen gelesene Kinder bekommen Anerkennung für ihre Kleidung, während als Jungen gelesene Kinder ihre Kleidung beschrieben bekommen.
In Wartesituationen zeigt sich ein ähnliches Muster: Während als Jungen gelesene Kinder eher zur Eigeninitiative ermutigt werden, werden als Mädchen gelesene Kinder zum Warten und zu Geduld angehalten.
Auch beim Thema Hilfstätigkeiten geht’s stereotyp weiter: Ausschließlich als Mädchen gelesene Kinder übernehmen diese – sei es das Helfen beim Anziehen oder das Aufräumen nach dem Essen. Diese Rollenverteilung wird von Fachkräften oft gelobt, wodurch sich die geschlechtertypischen Erwartungen und Handlungsweisen weiter verfestigen.
Schließlich wird deutlich, dass Doppelstandards existieren. Während impulsives und lautes Verhalten bei als Mädchen gelesenen Kindern korrigiert und strikt unterbunden wird, wird es bei als Jungen gelesenen Kindern als ‚normal’ betrachtet und teilweise belächelt.
Es ist kaum sichtbar, kaum hörbar – und doch formt Geschlecht viele dieser kleinen Momente des pädagogischen Alltags mit.

Was zeigt diese Analyse?

Genderstereotype lassen sich leider nicht erst in Schulbüchern finden – sie starten schon im Krippenalter. Als Mädchen gelesene Kinder verbleiben in Nebenrollen, bekommen wenig Aufmerksamkeit und übernehmen in vielen Situationen Hilfsaufgaben. Dadurch lernen sie, Bedürfnisse anderer Kinder wahrzunehmen und diesen vor ihren eigenen nachzukommen. Wenn jemand die Szene bestimmt, dann sind es die als Jungen gelesenen Kinder. Sie stehen im Zentrum, werden zu Hauptrollen mit mehr Autonomie, sofortiger Bedürfnisbefriedigung und erfahren unterstützendes Verhalten. 
Aus diesen erlernten Mustern entstehen einerseits unselbstständige Kinder mit wenig (pro)sozialen Fähigkeiten, die permanente Begleitung und Aufmerksamkeit brauchen und andererseits Kinder, die geduldig sind, aber nicht auf ihre eigenen Bedürfnisse achten. Das ist jedoch kein böser Wille seitens der Fachkräfte – sondern ein erlerntes (Gesellschafts-) System.

Viele Baustellen – und ein Blick nach vorn

Ein echtes Sorgenkind in der pädagogischen Praxis ist das sogenannte Gleichbehandlungsparadigma. Viele Erzieher*innen sind überzeugt: „Ich behandle alle Kinder gleich!“ – nur zeigt der Alltag etwas anderes. In den meisten untersuchten Interaktionen bestimmt das zugeschriebene Geschlecht den Handlungsverlauf der Situation, wodurch eine tatsächliche Ungleichbehandlung entsteht.
Ein weiteres Problemfeld ist die Vorbildrolle der Fachkräfte. Die als Mädchen gelesenen Kinder „identifizieren und „verbrüdern (!)““ (Rohrmann et al. 2010: 6) sich durch Nachahmungstätigkeiten mit den Fachkräften und erheben sich so gleichzeitig über die sonst überlegenen als Jungen gelesenen Kinder. So reproduzieren sie stereotypisches Verhalten bei der Suche um Aufmerksamkeit und Anerkennung, welches später als ‚natürlich‘ definiert wird. Diese Art der Wahrnehmung spiegelten die Fachkräfte mehrfach durch Äußerungen wie: „Ja, aber [Ute] hilft doch gerne!“, was auch zeigt, wie sehr diese Kinder in Zusammenhang mit ihren Hilfstätigkeiten von den Fachkräften wahrgenommen werden und wie stark damit bestimmte Erwartungen verknüpft sind.

Auch in den Reflexionsrunden wurde klar: Die Schubladen im Kopf öffnen sich oft schon, bevor ein Kind überhaupt etwas tut. Diese differenzierte Wahrnehmung führt dazu, dass allen Kindern bestimmte Handlungen und Fähigkeiten verwehrt werden (Focks 2016: 18f.). Viele Fachkräfte waren überrascht, sich selbst „ertappt“ zu sehen – wie in einem Spiegel, der plötzlich Dinge zeigt, die man vorher nicht sehen konnte. Zwar erkennen sie genderungerechtes Verhalten in spezifischen Situationen, übersehen es aber oft im Alltag: So werden z. B. weiterhin Bücher genutzt, in denen als Frauen gelesene Menschen Betten ausschütteln oder die Feuerwehr als männliche Domäne dargestellt wird. 
Und genau das macht es für die Fachkräfte so schwer: Die Rollenbilder sind so gut versteckt, dass sie selbst mit der Gender-Brille schwer zu erkennen sind. Die Beschäftigung mit gendergerechter und -sensibler Pädagogik führte zwar zu ersten Umdenkprozessen in der Erziehungsarbeit, leider fehlen diese Inhalte jedoch in der Erzieher*innenausbildung. Fachkräfte müssen sich dieses Wissen daher eigenständig aneignen, um ihren festgestellten ‚blinden Fleck’ zu füllen – eine Herausforderung, die sich in ihrem Wunsch nach konkreten Handlungsempfehlungen für den Krippenalltag widerspiegelt. Denn was deutlich wird, ist: Gendergerechte Erziehung braucht mehr als gute Absichten. Sie braucht Wissen, Anleitung, Reflexion – und jede Menge Engagement, Handlungsmuster zu hinterfragen.

Große Wirkung bei den Kleinsten

Geschlechtergerechte und -sensible Pädagogik beginnt nicht irgendwann, sondern ganz am Anfang – in der Krippe – oder eben nicht. Diese Arbeit fordert dazu auf, pädagogische Routinen kritisch zu hinterfragen, das eigene Handeln zu reflektieren und neue Wege zu finden, um Kinder nicht in tradierte Geschlechterrollen zu drängen. Es geht nicht darum, Kinder gleich zu machen, sondern ihnen zu erlauben, sie selbst zu sein – und sie in ihrer (Geschlechts-) Individualität zu stärken.
Denn wenn wir wirklich wollen, dass Kinder in einer Welt aufwachsen, in der sie alle ihre Potenziale entfalten können und in der alle Kinder dieselben Chancen bekommen, dann müssen wir da ansetzen, wo alles beginnt: bei den Kleinsten.

Literaturverzeichnis

Bohnsack, R., Nentwick-Gesemann, I. & Nohl, A.-M. (2013). Einleitung: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. In R. Bohnsack, I. Nentwig-Gesemann, & A.-M. Nohl (Hrsg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis: Grundlagen qualitativer Sozialforschung (S. 9–32). Wiesbaden: Springer.

Bourdieu, P. (2016). Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Focks, P. (2016): Starke Mädchen, starke Jungen: Genderbewusste Pädagogik in der Kita.  Freiburg im Breisgau: Herder Verlag.

Focks, P. (2022). Erziehung und Bildung jenseits von Geschlechterstereotypen: Identitäten, Sexualitäten, Verhalten. Stuttgart: Kohlhammer.

Irmler, L. (2012). Erzieherinnen in Interaktionen mit Jungen und Mädchen: Eine empirische Untersuchung zum körpersprachlichen Habitus von Erzieherinnen (Unveröffentlichte Dissertation). Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Kubandt, M. (2016). Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung: Eine Qualitativ-Rekonstruktive Studie. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich.

Mückstein, K. (Producer). (2023). Feminism WTF [Dokumentarfilm]. Wien: Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion.

Rohrmann, T. (2012). Gender im Kontext der Arbeit mit Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Verfügbar unter: https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/FT_Rohrmann_OV.pdf.

Rohrmann, T., Cremers, M. & Krabel, J. (2010). Männer in Kitas – welche Bedeutung hat das Geschlecht pädagogischer Fachkräfte?. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 41 (2), 1–12.

Rohrmann, T. (2022): Jungen, Mädchen, Gender und geschlechterbewusste Pädagogik in Bildungsplänen und Leitlinien für Kitas in den deutschen Bundesländern, unter Mitarbeit von Dana Staats, Hildesheim, [URL:  https://www.hawk.de/sites/default/files/202203/gender_in_bildungsplaenen_laenderuebersicht_2022-1.pdf, letzter Zugriff: 09.03.24].

Schaich, U. (2023). Gender in Kinderkrippen: Wie Geschlecht bedeutsam gemacht wird. Eine ethnographische Studie. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Scheu, U. (1977). Wir werden nicht als Mädchen geboren – wir werden dazu gemacht: Zur frühkindlichen Erziehung in unserer Gesellschaft. Frankfurt am Main: Fischer.

Tuma, R., Schnettler, B. & Knoblauch, H. (2013). Videographie: Einführung in die interpretative Videoanalyse sozialer Situationen. Wiesbaden: Springer.

Wahlström, K. (2013). Jungen, Mädchen und Erzieher/innen. Geschlechterbewusste Pädagogik für die Kita – Das Erfolgskonzept aus Schweden. Weinheim: Beltz.

Wetterer, A. (2013). Das erfolgreiche Scheitern feministischer Kritik: Rhetorische Modernisierung, symbolische Gewalt und die Reproduktion männlicher Herrschaft. In: E. Appelt, B. Aulenbacher & Wetterer, A. (Hrsg.),  Gesellschaft: Feministische Krisendiagnosen (S. 246–266), Münster: Westfälisches Dampfboot.


[1] Ich verwende die Begriffe „Mädchen“ und „Junge“ ohne Implikationen (z.B. „*“) und orientiere mich, wie die Fachkräfte,  an dem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht der Kinder. Da die Kinder in diesem Alter noch keine voll ausgeprägte Geschlechtsidentität haben, stütze ich mich bei der Analyse auf das zugeordnete Geschlecht. Mit der Formulierung „als Mädchen/Junge gelesenes Kind“ möchte ich dies explizit machen.

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