„Hauptsache das Kind ist gesund“ Gewalterleben Betroffener in der Geburtshilfe – qualitativ-primäranalytische Studie –

Laura Pohl
(pohl-laura@outlook.de)

1. Hintergrund
Gewalt in der Geburtshilfe ist ein globales Phänomen, das trotz zunehmender
Erfahrungsberichte Betroffener in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik unterrepräsentiert
bleibt und bislang nicht einheitlich wissenschaftlich definiert ist (Freedman et al. 2014; Jung
2017). Im Rahmen der Bachelorarbeit wurde das subjektive Gewalterleben von Gebärenden
untersucht und die physischen, psychischen und sozialen Folgen dieser Gewalterfahrungen
beleuchtet. Die Forschungsfrage lautet: „Wie erfahren und erleben Gebärende Gewalt in der
Geburtshilfe und welche Auswirkungen hat dies auf ihr Leben nach der Entbindung?“ Ziel der
Forschung war es, zur Schließung der Forschungslücke bezüglich der Perspektive der
Gebärenden beizutragen und so den wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Diskurs über
Veränderungen im Umgang mit Gebärenden zu intensivieren. Zur theoretischen Annäherung
wurde ein Mehrebenenmodell (Schimank & Volkmann 2017) genutzt, welches eine Einordnung
gewaltbegünstigender Faktoren in der Geburtshilfe wie die paternalistische Grundhaltung der
Medizin (Tegethoff 2011), die Ökonomisierung des Gesundheitssystems (Jung 2017) sowie den
Charakter von Sorgebeziehungen (Kohlen 2016) auf der Makro-, Meso- und Mikroebene
ermöglichte.

2. Daten und Methode
Der Studie liegt ein qualitativ-primäranalytisches Forschungsdesign zugrunde. Hierfür wurden
problemzentrierte Interviews mit sechs Frauen aus Deutschland geführt, die zwischen 2020 und
2023 während der Geburt in deutschen Krankenhäusern gewaltvolle Erfahrungen machten. Um
ein ganzheitliches Bild der jeweiligen Geburtserfahrung zu erfassen, ist der Interviewleitfaden
chronologisch aufgebaut und beginnt mit der Abfrage der Vorbereitungen und Erwartungen an
die Geburt, bevor der tatsächliche Geburtsablauf, das Erleben von Gewalt sowie die Auswirkungen auf das Leben nach der Geburt in den Fokus rücken. Die Interviews wurden mittels der qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz (Kuckartz & Rädiker 2022) ausgewertet, um eine tiefgehende Analyse der individuellen Erlebnisse und Wahrnehmungen der Befragten zu ermöglichen.

3. Ergebnisse
Die Ergebnisse der Forschung zeigen, dass die Befragten der Geburt einerseits mit Vorfreude
und großem Vertrauen in die Gebärkompetenz des eigenen Körpers entgegenblickten.
Andererseits verspürten sie Angst vor der ‚Interventionsspirale‘, vor welcher die Interviewten
seitens ihrer Hebammen und anderer Mütter gewarnt worden waren. Darunter verstanden die
Befragten das Phänomen, dass die erste Intervention eine Reihe weiterer Eingriffe auslöst, die
sich kaum aufhalten lassen und zu einer Verdrängung des ‚natürlichen‘ Geburtsverlaufs führen.
Die Gewalterfahrungen der Befragten zeichnen sich durch eine starke Kontextabhängigkeit aus
und sind nicht gänzlich trennscharf. In der Auswertung wurden die Kategorien körperlich
wirkende, psychisch wirkende, sexualisierte sowie bedürfnismissachtende Gewalt
herausgearbeitet. Alle berichteten Gewalthandlungen gingen dabei vom medizinischen
Personal aus. Als körperlich wirkende Gewalt nahmen die Befragten insbesondere die
Durchführung medizinischer Maßnahmen ohne Einwilligung wahr, häufig im Zusammenhang
mit einer wahrgenommenen ‚Interventionsspirale‘. Weitere Beispiele waren die Verweigerung
von Schmerzmitteln sowie der Zwang zur Rückenlage während der Geburt. Psychisch wirkende
Gewalt war insbesondere in Form verbaler Aggressionen, Erniedrigungen, Drohungen und dem
Absprechen von Schmerzen identifizierbar. Bei den geschilderten Fällen sexualisierter Gewalt
wurde die Wehrlosigkeit der Gebärenden während einer Wehe genutzt, um gegen ihren Willen
in ihre Intimsphäre einzudringen. Die Handlungen innerhalb der Kategorie
bedürfnismissachtende Gewalt wurden seitens der Befragten ausdrücklich als gewaltvoll
bezeichnet, wirkten jedoch auf diese weniger stark als psychisch wirkende Gewalt, weshalb
eine eigene Kategorie gebildet wurde. Die Interviewten kritisierten dabei insbesondere das
Missachten des körperlichen und psychischen Ausnahmezustands, in welchem sie sich während
der Geburt befanden. Exemplarisch zeigt sich dies in der verbalen Ansprache – insbesondere
dem Initiieren von Smalltalk – während der Wehen, obwohl die Befragten zuvor klar
kommuniziert hatten, nur in den Wehenpausen angesprochen werden zu wollen.


Eine zentrale Erkenntnis ist, dass das asymmetrische Machtverhältnis zwischen medizinischem
Personal und Gebärenden sowie eine hierdurch begünstigte Objektifizierung der Gebärenden eine entscheidende Rolle bei dem Erleben geburtshilflicher Gewalt spielen. Als elementarste
Gewaltausübung nahmen die Befragten das Ausschließen ihrer Person aus dem Gebärprozess
wahr. So ordneten sie Geschehnisse und Handlungen insbesondere dann als gewaltvoll ein,
wenn diese von einem Gefühl der Machtlosigkeit und des Autonomieverlusts begleitet wurden:
„Für mich das Schlimme ist ja, dass meine Stimme nicht gehört wurde“ (Transkript 2). In engem
Zusammenhang hiermit steht die wahrgenommene Bedeutungslosigkeit des psychischen
Wohlbefindens der Gebärenden während der Geburt: „Dann meinte die Hebamme: Ich soll
mich nicht so anstellen, meinen Kopf könnte ich ja ausstellen, es ist nur wichtig, dass mein
Körper es schafft.“ (Transkript 1). Hierin wird ein geburtshilfliches Verständnis deutlich,
welches sich durch eine Marginalisierung der psychischen Bedürfnisse der Gebärenden und
einer Reduzierung dieser auf ihre körperliche Leistungsfähigkeit auszeichnet.


Die Auswirkungen der gewaltvollen Geburtserfahrungen sind vielfältig und langanhaltend,
wobei insbesondere von fortwährenden körperlichen und psychischen Folgen wie
Depressionen, Panikattacken und Schuldgefühlen gegenüber dem Neugeborenen (resultierend
aus dem Gedanken heraus, es nicht besser geschützt zu haben) berichtet wurde. Aufgrund der
Reaktionen des sozialen Umfelds, welches primär mit Unverständnis und Unglauben auf die
geschilderten Gewalterfahrungen reagierte, erlebten die Befragten eine sekundäre
Viktimisierung und eine hieraus resultierende zusätzliche Belastung. Auch einen erschwerten
Aufbau der Eltern-Kind-Beziehung sowie eine kritische Auseinandersetzung mit der Planung
weiterer Kinder führen die Interviewten auf die gewaltvolle Geburtserfahrung zurück.

4. Fazit
Obwohl die Gesundheit des Neugeborenen selbstredend auch im Interesse der Gebärenden ist,
zeigt die Bachelorarbeit, dass dies nicht ‚die Hauptsache‘ ist. Durch die Priorisierung der
Gesundheit des Kindes geraten die Bedürfnisse der Gebärenden in den Hintergrund, wodurch
Gewalt in der Geburtshilfe begünstigt und langfristige psychische und physische Schäden der
Gebärenden ausgelöst werden können. Neben weiteren qualitativen Studien sind insbesondere
auch repräsentative quantitative Erhebungen notwendig, um das Ausmaß geburtshilflicher
Gewalt zu erfassen. Auf dieser Grundlage könnten fundierte Empfehlungen für strukturelle
Reformen und ein verstärkter Diskurs über geburtshilfliche Versorgungsstandards initiiert
werden, die das Selbstbestimmungsrecht und die ganzheitliche Gesundheit der Gebärenden
gemeinsam mit der Unversehrtheit des Kindes in den Fokus rücken.

5. Literaturverzeichnis

Freedman, Lynn P. et al. (2014): Defining disrespect and abuse of women in childbirth: A research, policy and rights agenda. In: Bulletin of the World Health Organization, 92(12), 915-917.
http://doi.org/10.2471/BLT.14.137869

Jung, Tina (2017): Die „gute Geburt“ – Ergebnis richtiger Entscheidungen? Zur Kritik des gegenwärtigen
Selbstbestimmungsdiskurses vor dem Hintergrund der Ökonomisierung des Geburtshilfesystems. In:
Gender, 2/2017, 30-45. https://doi.org/10.3224/gender.v9i2.03

Kohlen, Helen (2016): Sorge als Arbeit ohne ethische Reflexion? Entwicklungslinien der deutschen Debatte um Sorge als Arbeit und der internationalen Care-Ethik. In: Henkel, Anna et al. (Hrsg.): Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologische Perspektiven. Baden-Baden: Nomos, 189-207.

Kuckartz, Udo & Rädiker, Stefan (2022): Qualitative Inhaltsanalyse, Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 5. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz.

Schimank, Uwe & Volkmann, Ute (2017): Ökonomisierung der Gesellschaft. In: Maurer, Andrea (Hrsg.):
Handbuch der Wirtschaftssoziologie. Wiesbaden: VS, 382-393.

Tegethoff, Dorothea (2011): Patientinnenautonomie in der Geburtshilfe. In: Villa, Paula-Irene et al. (Hrsg.): Soziologie der Geburt. Frankfurt und New York: Campus, 101-128.

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